Lagos, fernes Fühlen – Reise an die Algarve im Winter

Algarve, Lagos, Ponta Piedade

Marco Schicker

Poseidons Atelier, Heinrichs Seefahrten, melancholische Sardinen und warum Reiseführer meist keine Ahnung haben: Ein Ausflug an die westliche Algarve in der „kalten“ Jahreszeit. Lagos, Sagres, Cabo de São Vicente.

„Ich bin ein fernes Fühlen, ein verirrter Traum“, singt Mariza die Melancholie der Portugiesen auf den Punkt.

Mögen die Eltern des Fado auch Lissaboner Straßenkinder gewesen sein, so stammen die Großeltern doch zweifellos von hier. Wer sich am Cabo de São Vicente, das wie eine Rampe in die Unendlichkeit führt, für eine Stunde in den Wind stellt, im letzten Winkel Europas Ausschau ins Nichts hält, der entkommt dem Pathos nicht, sieht Ersehntes und Aussichtsloses verschmelzen in einem Horizont, der sich weigert, nur schaurig oder nur schön zu sein. Der Atlantik, dieser Philosoph, spült uns zurück in die Welt. Das „Wichtige“ verschluckt er, das Kleine lässt er glänzen. Gegrillte Sardinen und ein Krug prickelnd grüner Wein strahlen mit den eigentlich traurig blickenden Augen einer Kellnerin um die Wette. Der Fado ist nicht nur schmerzlich schön, er ist auch eine Kokette mit Krokodilsträne.

Gegrillte Sardinen und ein Krug prickelnd grüner Wein
Gegrillte Sardinen und ein Krug prickelnd grüner Wein

Stille Genügsamkeit, ehrliche Wärme, das Temperament – gleichwohl südländisch – gezügelt wie ein Segel, das bei zu viel Wind reißen würde, spannte man es ganz auf. „Die“ Portugiesen sind ein angenehmer Menschenschlag, hier, wo Europa sein Finale mit felsigen Buchten, sturmumwehten Kaps, niedlichen Dörfern, von Sand, Sonne und Wind geschliffenen Azulejos begeht. Und mit vielen Golfplätzen.

Das Cabo de São Vicente wird meist nur als Erdbeben-Meldung eine Nachricht, ob es das Nachgrummeln des großen Bebens von 1755, das Vorspiel für die nächste Katastrophe oder nur der Taktgeber für den Fado ist? Das Ende Europas. Oder ihr Anfang. Europa ist eine Frau, wie jeder Kontinent. So ist die Regel. Den armen Amerigo Vespucci haben sie dafür sogar transgendern müssen. Nein. Es muss das Ende sein. „Letzte Bratwurst vor Amerika“ steht – auf Deutsch – auf einem Imbisswagen im Nirgendwo am Kap. Nichts bleibt uns erspart, nicht einmal hier, wiewohl diese Pointe mit Senf dadaistische Qualität hat.

Altstadt von Lagos
Lagos Altstadt

Felsen, Höhlen, Outdoor-Daddy: Lagos Küste

Sagres, ein paar Kilometer östlich vom Kap, ist ein liebliches Nest, das die Einfallslosen als „malerisch“ beschreiben, voll bunter, alter Fischerkaten und so Zeug. Sein Schutzpatron muss durchaus ein Künstler gewesen sein. Dass Ort und Umgebung nicht völlig zugebaut worden sind, wie so viele einst „malerische“ Küsten, ist kein Zufall. Es ist wieder das nur halb gesetzte Segel, das die Portugiesen mitunter weiter brachte als andere. Sagres heißt auch das bekannteste Bier Portugals – neben dem Super Bock aus Porto. Es macht kaum betrunken, höchstens ein bisschen seegängig. Der grüne Wein aber, der macht Fado.

Reiseführer und Besucher schwärmen von wild-romantischen Buchten und skurrilen Felsformationen, die zu Brücken, Höhlen, Löwen- und Elefantenköpfen werden. Vor allem in Lagos hat der berühmte Bildhauer Poseidon ein riesiges Atelier hinterlassen, eine Werkschau, die sich über kilometerlange Holzstege und -treppen rund um die Ponta de Piedade besichtigen lässt, die im Winterhalbjahr fast unbenutzt sind. Kayaks, kleine Boote und Katamarane „entdecken“ für Touristen diese unwirkliche Kulisse im Stundentakt und bequem vom Hafenkanal aus.

do not trip!
Nicht zu weit über die Kante lugen

Schilder warnen Wanderer vor Gezeiten, Steinschlag, auch vor Dummheit. Nutzt wenig. Ab und an geraten ein analoger Outdoor-Daddy oder eine digitale „Content Creatorin“ zu nah an die Abgründe. Wegezoll des Schicksals.

„Im Sommer ist es die Hölle“, erklärt die Kellnerin mit den strahlend traurigen Augen. „Du bist zur richtigen Zeit gekommen.“

Wer morgens in den Sonnenaufgang wandert, ist an dieser Küste ganz allein, stundenlang. Die Reiseführer haben keine Ahnung, wovon sie sprechen. Denn sie sprechen zu Badegästen und Golftouristen. Jede Straßenkatze ist weiser.

Sagres, Lagos, das Kap

Es ist das Land von Heinrich dem Seefahrer, Enrique el Navegante. Ein Prinz von Portugal, der von hier aus die Entdeckungsfahrten der Portugiesen dirigierte, die sich schon im frühen 15. Jahrhundert an Afrikas Westküste entlangschlängelten, sich aber noch nicht ganz unten rum ums Kap trauten. Alles begann 1415, also weit vor dem „Fall“ von Konstantinopel und Granada, vor 1492 und den Kartoffeln.

Heinrich überredete seinen Vater, Ceuta zu erobern und so einen Brückenkopf in Nordafrika aufzuschlagen. Ziemlich gewagt war das, quetschten sich die Portugiesen doch an der Meerenge zwischen hochgerüstete Mauren und Spanier. Sie nisteten sich just an der Endstation der Karawanen aus dem Orient ein und sahen, welche Reichtümer diese brachten. Seide, Gewürze, Gold, unbekannte Früchte und Tiere. Und Menschen.

Heinrich, mir graut vor dir: Von der Algarve nach Afrika

Menschen, die man kaufen und verkaufen konnte. Nun hatten sie Heißhunger, konnten aber über Land nicht weiter, also segelten sie nach Süden, die afrikanische Westküste ab, um auf dem Seeweg nach Indien und zu den Gewürzinseln zu kommen. Über die Kanaren und Kapverden, über Dakar hinein in den Gambia-Fluss, ins mutmaßliche El Dorado Timbuktu, nach Mauretanien. Schließlich kamen sie in einen kleinen Hafen, den sie Lagos nannten, als Schwesterstadt ihres Heimathafens. Heute ist die nigerianische Metropole Lagos ein Moloch von 16 Millionen Einwohnern. Damals war es eine Handelsstation, wo die Europäer bereits einen wohl organisierten Sklavenmarkt vorfanden und ins Geschäft einstiegen.

Stadttor von Lagos - einer maurischen Festung
Stadttor von Lagos – einer maurischen Festung

Im portugiesischen Lagos entstand, laut Reiseführern, „der erste Sklavenmarkt Europas“. Doch Reiseführer, wie erwähnt, haben keine Ahnung. Dort, neben dem Hafenkanal und der Statue Heinrich des Seefahrers, wo heute die Zollstation aus dem 18. Jahrhundert steht, wurde 1444 tatsächlich ein Mercado de Escravos eröffnet, die „Ware“ an die Säulen der Arkaden gebunden. Doch es war nicht der erste. Der Sklavenhandel war für Europa nichts Neues, die Phönizier handelten mit Afrikanern im gesamten Mittelmeerraum, Griechen und Römer perfektionierten das System, seit den Goten hielt sich auch die Kirche in Spanien Sklaven. Mauren und Christen machten im Mittelalter einen regelrechten Wettstreit daraus, wer mehr Menschen fangen und vermarkten konnte. Lagos 1444, das war nur ein neues Level: der Auftakt zum überseeischen Im- und Export, zum industriellen Menschengroßhandel, mit dem das „christliche“ Europa die Welt anzapfte, die bis heute davon blutet.

Der Ort, an dem das alles begann, wird seiner Brisanz nicht ansatzweise gerecht, ein harmloses, hübsches Plätzchen in portugiesischem Rokoko.

Das große Beben 1755 spülte die alten Bauten weg, die Barbarei noch lange nicht.

Der Prinz und seine Mannen lernten von den Mauren den Schiffsbau. Heinrich gilt als Erfinder der Karavelle, eine zunächst zweimastige größere Nussschale mit geringem Tiefgang, hoher Wendigkeit und viel Laderaum. Deren Weiterentwicklungen schafften es dann auch bis nach Amerika und schließlich um die ganze Welt. Den Portugiesen kam zu Hilfe, dass die Spanier noch mit sich und ihrer Reconquista zu tun hatten und so noch ein paar Jahrzehnte als Konkurrenten ausfielen. Und die Chinesen, die eben noch mit Flotten von hunderten High Tech-Schiffen den Indischen Ozean bis zur ostafrikanischen See befuhren, vollführten eine radikale Kehrtwende. Ein Kaiser erklärte den Bau oder das Benutzen von hochseetauglichen Schiffen zur Todsünde, China entschied sich für den Handel vom eigenen Land aus, zog sich in sich selbst zurück und versklavte fortan die eigenen Leute. Plötzlich tat sich im Osten eine Lücke auf. Die Portugiesen bogen 1488 um die Kurve und kamen gerade noch zur rechten Zeit, sie erstmal ganz allein zu füllen. Ein Weltreich war geboren.

Altstadt und Karavelle: Lagos – teuer, aber gut

Auch die Azoren ließ Heinrich – auf der Suche nach Indien, wie Kolumbus – kolonialisieren und eine Expedition stieß quasi schon an Amerika an, nur ein ungünstiger Wind und Hunger verhinderten den großen Coup. Heinrich war quasi ein Vorfahre(r) von Kolumbus. Genug Geschichte für heute? Gleich. Heinrich der Seefahrer starb 1460 in Sagres, da waren Da Vinci und Kolumbus gerade neun Jahre alt. Ceuta, das Fanal, fiel 1580 mit ganz Portugal an die Spanier. Die durften es mit dem „Frieden von Lissabon“ 1668 endgültig als Trostpreis behalten, als die anderen europäischen Mächte – die Briten vor allem – den Spaniern sehr überzeugend klar machten, dass es besser für sie sein wird, die Nachbarn fortan in Ruhe zu lassen. Das Überraschende an dieser Geschichte ist, dass sich die Spanier daran hielten. Portugal und Großbritannien schmiedeten ein weitreichendes Zweckbündnis, das über Portwein und gut Englisch sprechende Kellner hinausreicht. Spanier und Portugiesen wurden Cousins, die sich von Weitem grüßen.

Zurück in den Urlaub. Das Straßenpflaster in Lagos imitiert die Baixa, die Unterstadt von Lissabon, wo der Marquês de Pombal die Trümmer der alten Häuser nach dem Beben kunstvoll in die Erde mosaikieren ließ, elfenbeinbeige, matt poliert, verkohlte Steine als Muster dazwischen. Im Hafenkanal dümpelt zwischen hunderten Sportbooten der Nachbau einer Karavelle aus Heinrichs Zeiten als schwimmendes Museum. Die Altstadt: Fischerhäuschen, Bürgerpalästchen, Kachelfassaden in Grün, pastellenem Purpur, blassem Blau, nichts dominiert, fast nichts ist älter als 1755, auch nicht die Festung am Hafen, eine Keksdose mit kecken Türmchen. Ein gewaltiges Stück Stadtmauer samt Doppeltor illustriert die Bedeutung, die der Ort einst hatte. Das Stadtmuseum als Anhang an die maßlos vergoldete Antonius-Kirche versucht den Spagat zwischen Welt- und Dorfgeschichte.

Tipp: über diese Übersicht kannst du dich einfach über die unterschiedlichen Hotels und Preise in und um Lagos informieren:

 

Sie haben es ein bisschen übertrieben mit den Leuchtreklamen in der Altstadt.

Das fällt wahrscheinlich jetzt im frühdunklen November stärker auf, da kaum Menschen die Sicht versperren. Ein paar Kilometer von Lagos gen Osten, in Albufeira und Portimão, erst Recht in Faro, da stehen auch die großen Hotelbunker, hat der Massentourismus gewonnen, weiter im Osten wird es teils wieder gemütlich, in Tavira zum Beispiel. Doch das Hinterland der Algarve ist größtenteils noch ein dicht bewachsenes, grünes Paradies, mit Lagunen, Flüsschen, kleinen Gehöften, überraschenden Kleinstädten. Schon wenn man in Ayamonte aus Spanien kommend über die Guadiana-Brücke fährt, gibt sich das Land als eigen zu erkennen. Felder und Plantagen sind kleinteiliger, es gibt keine kilometerlangen Erdbeerplantagen oder unendliche Olivenmeere. Auch in Portugal wütet das Oliven- und Mandelvirus Xylella Fastidiosa leider zunehmend. Es gibt von allem überall ein bisschen. Spanien lebt für den Export, Portugal für sich selbst.

Cataplana im Sardinen-Nebel: Gastronomie in Lagos

In Lagos gibt es auffallend viele indische Lokale und von Inder betriebene “Italiener”. Die Briten brachten sich ihre Kolonien mit nach Portugal, so schließt sich der Kreis, wenn auch auf absurde Weise. Ein deutsches Honorarkonsulat gibt es auch. Passt zur letzten Bratwurst. Wirklich portugiesische Lokale finden sich einige, teils mit echter Patina, teils gut geschwindelt. Das „Jotta 13“ ist Kult. Ein besonderes Erlebnis ist die „Adega da Marina“, locker 200 Sitzplätze in einer früheren Fischauktionshalle. Man könnte eine Touristenfalle vermuten, wird aber, wenn man den Lärm abkann, nach zwei, drei Besuchen zum Stammkunden. Das Angebot an frischen Fischen, die aus sehr kleinen Booten geliefert werden, ist so groß, dass man fast vergisst, Kabeljau zu bestellen, wegen dem man eigentlich auch nach Portugal gekommen ist. Lagos, das im Sommer als teure Destination gilt und durch betuchte Ausländer und „digitale Nomaden“ auch ganzjährig immer teurer wird, stellt seinen Besuchern noch immer ein halbes Dutzend fette Atlantik-Sardinen für 9-10 Euro hin. Wenn man danach sucht.

„Früher roch die ganze Stadt danach.“ Die Kellnerin erzählt mir vom „Sardinen-Grillnebel“, der sich mit dem Dampf der Kastanien ab November vermengte, und bringt mir einen buttrigen Käse aus dem Alentejo als Aperitif. Das hat sie so entschieden. Und, ich solle heute eine Cataplana probieren. Portugals Geschichte hat sich in der Küche versammelt und beschlossen, den Touristen zu veralbern: Irgendwo zwischen tiefer Pfanne, Wok mit Deckel und gehämmerter Kupfer-Tajine dämpfen sie in der Cataplana Fische und Meeresfrüchte oder auch Varianten mit Fleisch, mal mit Kartoffeln, mal mit Reis. Das Ergebnis ist eine Art Caldereta oder Arroz meloso, wie ihn die Spanier – die hatten hier noch gefehlt – machen, nur eben mit Deckel drauf, was Geschmäcker und Düfte hütet.

„Iss!“, sagt die Kellnerin knapp und spricht nicht mehr das Portuñol, mit dem sich Spanier und Portugiesen hier sonst verständigen, sie spricht nun geradeaus und gnadenlos Portugiesisch. Und sie grinst, als sie geht, aber natürlich in sich hinein, verirrt verträumt, mit ihrer Schürze und ihrem Lächeln als halb gesetzten Segeln.

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Anreise

Für Reisen an die Algarve dient der Airport Faro* als Drehscheibe. Von Spanien aus bietet sich auch ein kostengünstiger Alsa- oder Flixbus ab Sevilla an, fünfmal täglich. Die Fahrt bis Tavira dauert zwei, bis Faro drei, bis Portimão knapp vier, bis Albufeira und Lagos viereinhalb Stunden. In Lagos gibt es einen Bahnhof, Züge fahren von hier (mit kurzem Umstieg in Tunes) in 4-5 Stunden bis Lissabon sowie die Küste bis Faro ab. Mit Bussen geht es von Lagos auch nach Sagres und ans Cabo de São Vicente, wobei manche nur bis Sagres fahren, andere direkt ans Cap und dort 30 Minuten vor der Rückfahrt nach Sagres warten. Tickets nur direkt am Busbahnhof.

Text und Fotos: Marco Schicker für www.costanachrichten.com

Aktivitäten in Lagos und der Algarve

Hier ist unsere Übersicht über Touren, für Tierliebhaber bietet sich eine Delfintour an, die eher klassische Altstadtführung von Lagos ist berechenbarer. Die Benagil-Höhle erfreut an schönen Tagen die Herzen von Photographie-Enthusiasten.

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